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"In Fühlung gehen" - Laudatio auf Carsten Zimmermann

Nachwort der Anthologie "Haiku - hier und heute"

"Ich vermarkte mich, also bin ich... eine Ware?" - Entwurf für einen Radio-Essay

 

 

 

 

In Fühlung gehen

 

Laudatio auf Carsten Zimmermann als Burgschreiber zu Beeskow 2014

 

Ich freue mich sehr, dass dieses Jahr erneut ein „Dichter der leisen Töne“ – wie Inka Bach letztes Jahr in ihrer Laudatio mich charakterisiert hatte – das Amt des Burgschreibers zu Beeskow innehaben wird. Und ich freue mich ganz besonders, dass es Carsten Zimmermann ist: ein Poet, der relativ gleichgewichtig Lyrik und Prosa schreibt, der bisher, neben Essays und Aphorismen, einen Roman und zwei Gedichtbände veröffentlicht hat – wobei seine Prosaarbeiten, wie er sagt, der lyrischen Prosa nahestehen. Ein Poet, der philosophisch interessiert ist, der Philosophie studiert hat, der das Philosophische allerdings vor allem in der Welt aufsucht, im Fühlen ebenso wie im Denken, im Berühren und Berührtwerden, z. B., wie er sagt, im „innigen Kontakt zur Natur“. In der Bewegung, in der Begegnung, im Spazierengehen, auch in der Stadt, wo auch immer. Die Heimat, der gewohnte Ort, sagt er, sei genauso mysteriös wie der Ort, an dem man sich durch Zufall wiederfinde. Jeder Ort sei, wenn man sich ihm öffne, unergründlich und in dem Sinne poetisch herausfordernd. So beschäftigt sich Carsten Zimmermann in seiner dichterischen Arbeit insbesondere [Zitat:] „mit der Frage nach dem Vor-Ort-Sein, nach dem Rätsel des Sich-Vorfindens in Leib und Sprache, in städtischen oder landschaftlichen Umgegenden“.

Carsten Zimermann geht spazieren. Er traut sich, möchte ich schon fast sagen, spazierenzugehen.

"Spazierengehn ist weder nützlich noch hygienisch, es ist ein Übermut, wie - nach Goethe - das Dichten. Es ist wie jedes Gehen und mehr als jedes andre Gehen zugleich ein Sichgehenlassen: Man fällt von einem Fuß auf den andern und balanciert diesen Vorgang. Kindertaumel ist in unserm Gehen und das selige Schweben, das wir Gleichgewicht nennen." (Franz Hessel, aus "Die Kunst spazierenzugehen", 1929)

Die Hauptfigur in Zimmermanns 2007 erschienenem Roman „Von hier nach hier“ geht immer wieder in Berlin umher und tut dies, wie einer der Abschnitte betitelt ist, „in Schuhen der Langsamkeit“. [Zitat:] „Ohnehin bevorzugt er ein Tempo, bei dem er noch spürt, daß er wenigstens ebenso sehr gegangen wird, wie er selber geht.“ Zimmermanns Prosa und Lyrik zu lesen ist eine ‚“Entdeckung der Langsamkeit“, ermutigt zur Entschleunigung, was bei Lyrik auch sonst meistens der Fall ist, bei Prosa jedoch oft nicht. Hier wird ein Tempo erkundet, das Anschmiegung erlaubt, aber auch wieder ein Loslösen, eines nun vermutlich leicht veränderten Ichs freilich, das passende Tempo also, um in Fühlung zu gehen mit den Dingen, den Begebenheiten; um, wie Carsten Zimmermann sagt, „die Welt so zu berühren, dass sie freundlich wird“, dass sie in Verwunderung versetzt, dass sie Staunen macht – und, so sei hinzugefügt, manchmal aber auch erschreckt oder verstört. Denn, auch wenn dichterisches Verfremden bzw. Naherücken manches entschärfen, ins Absurde kehren oder gar verzaubern kann, eine heile oder heilige Welt ist dies nicht, wie wir alle wissen und wie auch Carsten Zimmermann weiß – und wovon er auch spricht. Etwa in seinem wunderbaren Langgedicht „der blick auf die hardthöhe“, in dem er Jugenderinnerungen und Stimmungslagen einer Generation insbesondere auch in ihren gesellschaftlichen und politischen Dimensionen lyrisch-elegisch ausfaltet.

 

"(...)

wo immer noch junge männer in schützengräben,

wo brandbomben, giftgas, wo die lager nie geschlossen waren -

und etwas davon sickerte durch in den alltag,

wurde ungeduld, konkurrenzdenken, gleichgültigkeit,

wir sahen es in den zügen der lehrer, der nachrichtensprecher,

wir sahen es in den augenwinkeln der väter, in der

ängstlichkeit der mütter, sahen es aufsteigen in uns selbst,

(...)"

 

(aus: "der blick auf die hardthöhe", in: Carsten Zimmermann, das transparente, 2013)

Und heute ist das natürlich nicht besser geworden.

Um so schwieriger – wo Angst, Gleichgültigkeit und Gereiztheit auf Seiten der Subjekte regiert –, sich zu öffnen für die Welt, „Momente der frischen Augen“, wie Zimmermann sie nennt, zu suchen, zu erleben und in Worte zu kleiden. Und da bin ich wieder am Glutkern dessen angelangt, was Zimmermanns poetische Erfahrung und dichterische Arbeit ausmacht: eine Haltung der Offenheit, bis ins Bodenlose, wie er sagt, der möglichst „identitätsfreien Offenheit des Ichs“. Darin, wie Carsten Zimmermann über solche Erfahrungen schreibt oder spricht, transportiert sich bereits etwas davon den geneigten Lesenden und Zuhörenden und beginnt zu resonieren, Feingefühl freizusetzen, Sehnsucht.

Beim Lesen von Zimmermanns Roman hatte ich wiederholt das Gefühl, in seiner Hauptfigur, aber auch im Duktus, einem zeitgenössischen „Mann ohne Eigenschaften“, einem Ulrich, wie der „Mann ohne Eigenschaften“ bei Robert Musil heißt, des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Carsten Zimmermann hat mich dann aufgeklärt, dass die Wendung „ohne Eigenschaften“ von Meister Eckhart stamme, über den er seine Abschlussarbeit im Studium geschrieben hat. Ohne Eigenschaften zu sein, charakterisiere nach Meister Eckhart einen mystischen Weg, auf dem das Ich sich von seinen als vermeintliches Eigentum angeschafften Eigenschaften löse und damit öffne – für etwas, das Gottes Wille sein kann, wie bei Meister Eckhart, das aber auch die Welt in ihrer unergründlichen Rätselhaftigkeit sein kann, wie bei Carsten Zimmermann, wo zwischen, hinter, unter oder in Warensammlungen, Zweckbauten, Alltagshandlungen und bestellten Feldern noch immer Epiphanien passieren können.

In den nächsten sechs Monaten wird hier einer spazierengehen, in Fühlung gehen, einer, der sich nicht hart machen möchte, sich nicht vorzeigt, nicht hervortut. Er wird spazierengehen im Ort und im Umland, in der Erinnerung, in Lektüren und in Versen, einer, der im Lärm der Rasenmäher die Stille erkennen wird, so wie er sie in einem einfachen Satz erkennt, wie er ihr schreibend Tür und Tor öffnet. [Zitat Zimmermann:] „Ein einfacher Satz enthält soviel Stille, so viele Lücken, daß es fast ummöglich scheint, von seinem Anfang zu seinem Ende zu kommen, ohne daß sich alles auflöst. Dennoch geschieht dies fortwährend.“

Bevor ich nun zu meinem letzten Satz komme, möchte ich noch ein kurzes Gedicht von Carsten Zimmermann zitieren, das der Kunst des Haiku verwandt ist, bei dem die Lücken, so könnte man sagen, weit mehr Raum einnehmen als die Worte selbst:

 

natur, dieser sanfte

verlust

 

und das geschrei

der krähen

 

man weiß von nichts,

während sie kreisen

im wind

 

(aus: Carsten Zimmermann, licht etc., 2009)

Ich bin dankbar für die Begegnung mit Carsten Zimmermann, mit seinen Texten und mit ihm selbst – und ich bin davon überzeugt: Ihnen wird es ähnlich gehen.

(Rainer Stolz, Laudatio, vorgetragen am 11.06.2014 zur Einführung des Burgschreiber-Stipendiats Carsten Zimmermann in Beeskow)

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Nachwort "Haiku - hier und heute" (dtv 2012)

  

1. Haiku – hier und heute

„Warum gibt es im Deutschen keine Haiku?“ Mit dieser Frage konnte 1982 noch ein wissenschaftlicher Aufsatz eröffnet werden. Heute wäre eher zu fragen, wieso sich die deutschsprachige Haiku-Dichtung seither, und besonders seit der Jahrtausendwende, so rasant und vielfältig entwickelt hat, obwohl ihre Existenz und sogar deren Möglichkeit immer wieder in Frage gestellt wurde (und wird). Der Philosoph Gregor Paul, Autor jenes Aufsatzes, verwies zu Recht auf die erheblichen Unterschiede der deutschen Sprache im Vergleich zur japanischen, in welcher das Haiku vor etwa 600 Jahren entstand. Unterschätzt hat er allerdings die Fähigkeit der Dichtung, sei sie nun deutsch- oder anderssprachig, sich Formen, die aus fremden Literaturen stammen, anzuverwandeln. Dies gilt ebenso für die Pluralisierung dessen, was im deutschsprachigen Raum und anderswo als „lyrisch“ anerkannt wird, für die Öffnung des Poesie-Verständnisses.

Dietrich Krusche, Übersetzer und Herausgeber der Sammlung „Haiku. Japanische Gedichte“, sah den Erfolg der Haiku-Dichtung bei Lesenden wie bei Schreibenden in deutscher Sprache elf Jahre später bereits als Tatsache an – was er hauptsächlich darauf zurückführte, dass durch das Haiku „eine Lücke im System unserer lyrischen Formen ins Bewusstsein gerückt“ worden sei: „Spruch, Sentenz, Aphorismus, Epigramm sind gedanklich besetzt; das nicht-reflexive, szenisch-anschauliche, in der Tendenz unmetaphorische Kurzgedicht hat in der bisherigen Geschichte der deutschen Literatur keine deutliche Ausprägung gefunden.“

Auch viele Haiku-Dichter/innen ‚hier und heute’ betonen die Unterschiede des Japanischen und des Deutschen. Manche warnen sogar davor, sich mit den eigenen Versen allzu mimetisch der klassischen japanischen Haiku-Dichtung zu nähern. Verwiesen wird hierbei insbesondere auf die japanischen Lauteinheiten (Moren), die mit den deutschen Silben nicht gleichzusetzen sind, auf die andere Sprachstruktur des Japanischen, welche die syntaktische und semantische Verknüpfung der Worte wesentlich lockerer lässt, sowie auf die entsprechend andere lyrische Tradition, in der Bindung vor allem durch einen Rhythmus der Moren-Anzahl und durch Lautmalereien erzeugt wird. Unter anderem auf Grund dieser Unterschiede – deren Bedeutsamkeit sich allerdings verändert, wenn die Literaturen sich verändern – hat die Haiku-Dichtung in deutscher Sprache sich inzwischen eine relative Eigenständigkeit erarbeitet, in der zudem ein bemerkenswertes Spektrum an Variationen Platz findet. Das Haiku hat sich im deutschsprachigen Raum (wie in vielen anderen Sprachräumen auch) eingerichtet und entwickelt sich im internationalen Austausch weiter.

2. Wegmarken deutschsprachiger Haiku-Dichtung

Frühe Einzelbeispiele einer von japanischer Haiku-Dichtung inspirierten Kurzlyrik finden sich um die Wende zum 20. Jahrhundert und besonders in dessen 20er-Jahren unter anderem bei Rainer Maria Rilke, Arno Holz, Ivan Goll und Klabund. Aus der Perspektive der Haiku-Forscherin und -Autorin Sabine Sommerkamp sei im Laufe der Zeit, begünstigt „durch die Haiku-Adaption führender Nachkriegslyriker, wie etwa Günter Eich“, eine „autonome deutschsprachige Haiku-Dichtung“ entstanden. Deren Beginn setzt sie in den 60er-Jahren an, insbesondere mit dem Erscheinen des Bandes „Haiku“ der österreichischen Schriftstellerin Imma von Bodmershof.

Die Genannten widmeten sich dem Haiku aber nur phasenweise und als einer Gedichtform neben anderen. Motivierend war für sie dabei ein Drang nach Entdeckung und Erweiterung des lyrischen Repertoires.

haijin, wie sie in Japan genannt werden, Dichter/innen, die sich nahezu ausschließlich auf das Verfassen von Haikus spezialisieren, findet man hierzulande in größerer Zahl erst seit den frühen 80er-Jahren – ein Resultat von Hobbyzirkeln, die sich an vielen Orten bildeten und eigene Szenen entstehen ließen. Diese für hiesige Verhältnisse ungewöhnliche Verbreitung poetischer Praxis knüpfte an den populären Charakter der Haiku-Dichtung in Japan an. Eine Rolle spielten freilich auch die vielen Angebote spirituell gefärbter Sekundärliteratur, in der das Schreiben von Haikus in Erleuchtungslehren, versehen mit dem beliebten Attribut „östlich“, eingespannt wurde.

1988 schließlich kam es zur Gründung der „Deutschen Haiku-Gesellschaft“. In ihr erkunden Hunderte von Haiku-Fans in wechselnden Generationen und vielfältigen Aktivitäten, wie zum Beispiel der Herausgabe einer eigenen Vierteljahresschrift, diese, wie es heißt, kleinste Gedichtform der Welt.

3. Popularisierungstendenzen der jüngeren Zeit

Als entscheidender Motor für die deutschsprachige Haiku-Dichtung erwies sich das Internet. Die Möglichkeiten weltweiter Kommunikation führten unter anderem zu mehr Transparenz und einer gewissen Entmystifizierung der Form. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstanden mehrere Webseiten, die ihre Aufmerksamkeit dem Haiku deutscher Sprache und dessen Poetologie widmen. Es gründeten sich Haiku-Foren mit Werkstattcharakter und schließlich auch von Redaktionen betriebene Online-Portale, die qualitative Auswahlen durchführen. Bei „Haiku heute“, dem wohl bekanntesten dieser Portale, werden mehrere hundert Haikus pro Monat eingesandt. Die wenigen ausgewählten Texte, die auf der Webseite präsentiert werden, erscheinen seit 2004 auch als Jahrbücher.

Stark beeinflusst ist diese „Laienbewegung“ von der Entwicklung in Großbritannien und vor allem in den USA, wo sich ebenfalls zahlreiche Haiku-Dichter/innen im Internet austauschen. Viele deutschsprachige Autorinnen und Autoren sind in europäischen, amerikanischen sowie englischsprachigen japanischen Haiku-Foren und -Magazinen präsent, indem sie ihre Haikus ins Englische übersetzen oder in englischer Sprache verfassen. Das ermöglicht ihnen auch die Beteiligung an international ausgeschriebenen Wettbewerben japanischer oder US-amerikanischer Institutionen, mit dem Ergebnis, dass sich unter den prämierten Werken regelmäßig auch solche deutscher, österreichischer oder Schweizer Herkunft finden lassen – auch wenn dies in der eigenen literarischen Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen wird.

4. Brückenschlag zwischen „Haiku-Szene“ und „Literaturbetrieb“

Weitgehend im Verborgenen blieb bislang auch, dass sich viele im Literaturbetrieb angesiedelte Lyrikerinnen und Lyriker dieser dichterischen Form aufs Neue zuwenden. Da es an entsprechenden Veröffentlichungen noch mangelt, waren sogar wir von der großen Resonanz überrascht, die unser Aufruf für die vorliegende Anthologie in Lyrikkreisen erfuhr.

Ähnlich wie in den Anfängen des deutschsprachigen Haikus scheint die Form auch für heutige „Profis“ der Dichtkunst eine besondere Herausforderung darzustellen: ein lockendes Wagnis. Weil ihre Kürze, der Fokus aufs Situativ-Bildliche und der zurückhaltende Gestus der Haiku-Dichtung, wie sie uns zumeist überliefert ist, die vertrauten Möglichkeiten des Dichtens in mancher Hinsicht konterkarieren, sind auch versierte Lyriker/innen auf diesem Terrain gewissermaßen Laien. Ein Großteil der Sekundärliteratur erschwert zudem die Aneignung, weil darin noch immer Sinnstiftungsmodelle (z. B. Haiku als Zen-Praxis) und Reinhaltungsgebote dominieren.

All das setzt im besten Fall eine produktive Verunsicherung in Gang, von der sich Dichter/innen, die sich nicht auf bestimmte Stilmittel, Formen oder den freien Vers festlegen wollen, die aber auch gegen bloße Imitation gefeit sind, anstacheln lassen können. In derartigen Prozessen verändert sich zugleich aber auch „das“ Haiku. Der Lyriker Jan Wagner formuliert diesen Zusammenhang so: „Das Spannende an traditionellen Formen – ob es sich nun um das Haiku, die Sestine oder die Villanelle handelt – ist ja die Anverwandlung der Tradition, also das gleichzeitige Beachten und Unterlaufen der Vorgaben, die individuelle Adaption.“

Solch bewusste Abweichungen von Regeln, die als traditionell vermittelt, aber zunehmend auch als konstruiert erkannt werden, sowie allerlei Experimente mit der Haiku-Form finden sich nicht nur bei ausgewiesenen Poetinnen und Poeten, sondern ebenso bei Vertreterinnen und Vertretern der Haiku-Kreise. Auch wenn die Beispiele sprachspielerischen Umgangs mit der Gattung vorwiegend aus der Feder von Lyrikerinnen und Lyrikern stammen, zeigt diese Anthologie, dass die Haiku-Produktionen beider „Szenen“ in jüngerer Zeit in Bewegung geraten und einander, gerade auch in ihrer Vielgesichtigkeit, recht nahe gekommen sind. Für sich betrachtet lässt sich den wenigsten hier veröffentlichten Haikus ansehen, welcher (zudem fragwürdigen) Kategorie die Autorin oder der Autor zugerechnet werden kann. Ein literaturkritisches Argument für eine Separierung, die faktisch noch immer gepflegt wird, lässt sich nicht finden – und das sagen zwei Herausgeber, die durchaus als Exponenten jener getrennten Kreise durchgehen könnten. Eine unserer Prämissen war es deshalb, mit der vorliegenden Sammlung einen Brückenschlag zu vollziehen und eine Zusammenschau zeitgenössischer deutschsprachiger Haiku-Dichtung jedweder Herkunft vorzulegen.

5. Auswahl repräsentativer Beispiele

Ziel war es, eine kleine Auswahl repräsentativer Beispiele aus der deutschsprachigen Haiku-Dichtung der jüngsten Gegenwart, der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, zu erstellen – eine exemplarische Sammlung, die das Spektrum zeitgenössischer Haikus deutscher Sprache im ‚Hier und Heute’ sichtbar macht. Dabei wollten wir insbesondere verschiedenen Stil- und Spielarten Raum geben, von denen sich einige erst in jüngerer Zeit entwickelt oder verbreitet haben. Einem Erkundungs- und Entdeckungsverfahren deutlich mehr verbunden als einem normativen, kanonisierenden Ansatz, nahmen wir auch Kurzgedichte auf, die sich in Grenzbereichen dessen bewegen, was geläufige Lehren bisher als Haiku definiert haben.

Begründen lässt sich dieses relativ offene Haiku-Verständnis nicht nur mit dem Wunsch, das gegenwärtige und zukünftige Haiku der dichterischen Aktivität – im Spannungsverhältnis von Traditionswissen und Erneuerung – zu überlassen, sondern auch aus der Geschichte der Haiku-Dichtung selbst: Kann schon bei den Klassikern nur eingeschränkt von strikten und einheitlichen Regeln gesprochen werden, so entwickelte sich die Haiku-Dichtung spätestens mit Beginn der Moderne in Japan (Meiji-Epoche) in sehr unterschiedliche Richtungen. Die Regel der 5-7-5 Moren gilt mittlerweile nur für das so genannte „traditionelle Haiku“ (dento haiku), ebenso die Pflicht eines Jahreszeitenworts (kigo). Das so genannte „zeitgenössische Haiku“ (gendai haiku) ist dagegen offen für Abweichungen und Experimente. Die Internationalisierung der Haiku-Dichtung, wie sie sich in den letzten 60 Jahren vollzogen hat, beförderte die Ausbildung weiterer Schreib- und Lesarten, beispielsweise jener angelsächsischen Schule, in der ein haiku moment, die Erfahrung und Gestaltung eines Augenblicks, zum Hauptkriterium erklärt wurde.

Für diese Anthologie – die bewusst und gegen eine gewisse Konvention nicht nach Jahreszeiten gegliedert ist, sondern im Sinne eines virtuellen Tagesverlaufs, in dem jederzeit alles geschehen kann – sollten weder bestimmte Haiku-Verständnisse vorausgesetzt noch ausgeschlossen werden. Dass jene Haikus, die ‚hier und heute‘ auf eine Jahreszeit verweisen, und jene, in denen das 17-Moren-Prinzip auf deutsche Silben übertragen wird, nicht weniger als andere willkommen waren, belegt die Auswahl. Denn es galt gerade nicht, ein neues Entweder-Oder, eine neue Hierarchie aufzustellen, sondern die Vielfalt dessen, was ein Haiku in deutscher Sprache heute sein kann, wahrnehmbar zu machen.

6. Anmerkungen zum Haiku-Begriff

Das Haiku ausschließlich als japanische Gedichtform zu charakterisieren, erweist sich als zunehmend problematisch. Der hier skizzierten Entwicklung angemessener erscheint es, von einer internationalen Gedichtform japanischer Herkunft zu sprechen.

Vor diesem Hintergrund liegt auch die Konsequenz nahe, für deutschsprachige Haikus den Duden-gemäßen Plural zu verwenden – so verstörend dies für Kenner der Haiku-Dichtung zunächst klingen mag, da es im Japanischen keine Pluralflexion gibt. Der angehängte Buchstabe kann als Symbol für den Spielraum der Aneignung und Erweiterung der Form aufgefasst werden, für ihre Integration in den Kosmos der Dichtung deutscher Sprache.

Zuletzt sei noch erwähnt, dass mit Absicht auf die Unterscheidung in Haiku und Senryu verzichtet wurde, wie sie auch im deutschsprachigen Raum gelegentlich anzutreffen ist. In der japanischen Dichtung werden „Dreizeiler“ als Senryu und nicht als Haiku klassifiziert, die, vereinfacht wiedergegeben, kein Jahreszeitenwort (kigo) enthalten und, insbesondere auf satirische Weise, von menschlichen Belangen handeln. Eine solche Grenzziehung ist jedoch selbst in Japan oftmals schwierig; und sie ist problematisch, unter anderem weil sie immer wieder mit einer Wertungshierarchie einhergeht. Daher wurde diesem Begriffspaar in unserer Auswahl keine Beachtung geschenkt.

7. Sie sind am Zug!

Welche Pfade deutschsprachiger Haiku-Dichtung der Gegenwart als besonders reizvoll und zukunftsweisend empfunden werden, lässt sich nicht vorhersagen. Dass bei allem Anspruch, die Vielfalt einzufangen, hier auch persönliche Vorlieben eingeflossen sind, liegt in der Natur einer Auswahl. So mag zum Beispiel der hohe Anteil an humorvollen Gedichten darauf zurückzuführen sein.

Unser Dankeschön gilt den beteiligten Autorinnen und Autoren, die dieses Projekt mit Leben gefüllt haben. Es gilt denen, die uns Tipps gegeben und Kontakte vermittelt haben. Und ganz besonders gilt es allen Einsenderinnen und Einsendern, die auf diesen begrenzten Seiten keine Berücksichtigung finden konnten.

Mit dem letzten Text dieser Sammlung, dem Dreizeiler von Christa Wißkirchen, gesprochen, hatten wir die dankbare Aufgabe, „ein Feld voll Haikus“ zu bestellen, und hoffen, dass den Leserinnen und Lesern die Ernte Genuss bereitet.

Hamburg / Berlin im Sommer 2011

Udo Wenzel & Rainer Stolz

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Ich vermarkte mich, also bin ich... eine Ware?

 

Entwurf für einen Radio-Essay

 

1.

Mal angenommen, ich verbringe einen gut Teil meiner Tage damit, Gedichte zu schreiben und zu verbreiten, finde Erfüllung darin; und Menschen, die meine Gedichte erreichen, bestätigen mir, dass ich sinnvolle Beiträge leiste – und dann, auf einmal, komme ich auf die Idee, mich als Werbetexter zu bewerben. Das mag auf den ersten Blick vielleicht einleuchten, zumal wir im Alltag die Suggestivkräfte von Sprachwitz, Reim und Metapher vor allem dann zu spüren bekommen, wenn es gilt, alles Mögliche und Unmögliche zum Kauf anzupreisen. Von meiner Warte aus jedoch lässt mich die Aussicht eines solchen Jobs eher an den Witz mit dem Musiker denken, der zum Klaviertransport eingeteilt wird. Nur, dass ich mich hier selbst einteile. Für die meisten Transportarbeiter übrigens wäre es genauso eine Zumutung, wenn sie plötzlich professionell Klavier spielen sollten, selbst dann, wenn sie auf Klaviertransporte spezialisiert sind. Aber warum, um alles in der Welt, komme ich dann überhaupt auf eine solche Idee? Nun ja, mir ist allerhand zuzutrauen, meiner Fantasie sind als Künstler halt keine Grenzen gesetzt... Weil ich mich manchmal selbst um Veranstaltungen kümmere, bei denen ich Gedichte vorlesen und Menschen begegnen kann, die Poesie mögen, habe ich sogar schon erwogen, zum Event-Manager zu werden. Die Liste ist lang. Da ich gern mit den verschiedensten Leuten rede – beim Vorstellungsgespräch habe ich das dann „kommunizieren“ genannt – saß ich auch mal eine Weile in einem Callcenter, Bestellannahme. Dabei habe ich verstanden, was es heißt, fremde Stimmen im Kopf zu haben; und damit meine ich, neben den Stimmen derjenigen, die Bestellungen aufgeben, vor allem solcherlei Einflüsterungen: „Immer ruhig und freundlich bleiben“, „Auf den Kunden eingehen“, „Persönlich beteiligt sein“, „Impulse aufnehmen und mit dem Sortiment abgleichen, um Zusatzangebote zu unterbreiten“. Hut ab, dazu gehört schon etwas, derlei Anforderungen gewachsen zu sein. Ich jedenfalls habe das nicht lange hingekriegt. Doch wer hat mir eigentlich nahegelegt, das könnte ein Job für mich sein?

Meine neuste Idee – „Geschäftsidee“, berichtigt mich die Arbeitsberaterin in mir –, jetzt aber wirklich nah dran an meiner Leidenschaft: „Rent-a-poet! Leihen Sie sich einen Dichter! Zum Beispiel für Ihre Feier!“ Ich mache gleich einen Flyer und verteile ihn in Villengegenden. Ich ermutige mich zu einem handfesten Preis. Darf mich bloß nicht unter Wert verkaufen. Nur so werde ich ernstgenommen. Hey, das ist nun echt mal etwas, das mich so richtig begeistert...

 

2.

Die Liste ist lang: Was ich alles schon ausprobiert oder in Betracht gezogen habe, was mir alles schon eingefallen ist, mir zuzumuten... halt, völlig falsch: „als Herausforderung zu betrachten“ – so formuliert es wahlweise mein innerer oder äußerer Coach. Denn heutzutage ist jede Kollegin im künstlerischen Projektteam, jeder Tanzpartner oder Kneipenkumpan auch dein Berater in Sachen Selbstvermarktung – und das natürlich auf Gegenseitigkeit. Außerdem bin ich ja kreativ, Möglichkeitsräume sind mein Zuhause. Also verordne ich mir ein Brainstorming nach dem anderen: Was kann ich tun, was, verdammt noch mal, kann ich noch tun? Um zu ernten, was allein hier und heute nachhaltig gilt: Geld. Für den nächsten Monat, die nächste Woche. Ich habe kaum noch Zeit, Gedichte zu schreiben. Jetzt, zum Beispiel, sitze ich an einem Essay, weil da ein Wettbewerb ausgeschrieben ist – mit Geldpreisen, versteht sich.

Anfangs erquickt es mich manchmal sogar, mein Gehirn unter Strom zu setzen. Doch meistens ziehe ich mich bald schon auf einen Beobachterstandpunkt zurück, auf eine quasi externe Position, und werde zu einem Arzt meiner selbst: Ich klopfe und horche mich ab, durchleuchte und kartiere meine Psyche, mein Sozialverhalten, meine Erfahrungen, meine Persönlichkeit, meine Hobbys und Interessen, meine Eigenheiten und Macken nicht zu vergessen – daraufhin, ob sie verwertbar sind. Hallo Patient, noch da? Flink injiziere ich mir ein paar Lockstoffe: dass ich mir im Falle eines Abschlusses endlich mal was leisten könnte, zum Beispiel eine Monatskarte für den öffentlichen Nahverkehr; und dass ich bei jedem Gelegenheitsdienst ja auch Kontakte knüpfen könnte... Ich bin auch mein eigener Hypnotiseur, als solcher suggeriere ich mir Kompetenzen ohne Ende: Flexibilität! Teamfähigkeit! Und das Neuste hat auch einen neuen Namen: Zukunftsfähigkeit! Soziale und emotionale, kreative und kommunikative... Kompetenzen sind die Symptome, die ich feststellen muss – doch wie heißt die Krankheit? Fieberhafte Jobsuche, mit Realitätsverlust? Stressresistenz, Frustrationstoleranz, Risikobereitschaft sind auch dabei, und Multitaskingfähigkeit! Eine derartige Selbstbehandlung geht nahtlos in plastische Chirurgie über. Was nicht ist, kann ja noch werden! Wie man sich präsentiert. Dass man fit erscheint und motiviert. Dass man auch mal querdenkt. Dass man den Eindruck erweckt, selbstverantwortlich zu sein: im Erfüllen der Vorgaben. Dass man sich einfühlen kann: in die Kundin, den Teamleiter und den Couponabschneider. Vorspiegeln führt da nicht weit. Kunden- und Marktorientierung, das soll heißen, auch so zu sein, wie man sich gibt, soll heißen, sich authentisch zu zeigen, und zwar so, wie man sein soll.

Falls Sie, liebe Hörerin, lieber Hörer, mich auf der Straße mal vorbeiwandeln sehen, wie ich gerade mit mir selbst rede, dann sollten Sie nicht etwa glauben, ich sei dabei, neue Verse abzuschmecken. Nein, ich führe probeweise und bei jeder Gelegenheit Vorstellungsgespräche oder Geschäftsverhandlungen mit mir selbst.

 

3.

Aber jetzt mal ganz sachlich: Was vermarkte ich armer, einfallsreicher Tor da nun eigentlich immer aufs Neue? Sind es Dienstleistungen? Sind es Waren? Oder bin ich es selbst?

Wenn ich mich als lyrischer Alleinunterhalter anbiete und auf der Geburtstagsfeier einer Managerin Gedichte rezitiere, dann vermarkte und verkaufe ich eine Dienstleistung. Wobei Dienstleistungen auch als Waren gelten, einen Preis erhalten und gegen Geld, durch Markt und Konkurrenz vermittelt, getauscht werden.

Wenn ich mir den nächsten Job suche, mich bewerbe und zum Beispiel einen Arbeitsvertrag bei einem Callcenter unterschreibe, dann vermarkte und verkaufe ich eine Ware, nämlich die Ware „Arbeitskraft“, und zwar dort, wohin sie im allgemeinen verwiesen wird: auf dem so genannten Arbeitsmarkt.

In beiden Fällen bin ich allerdings bei der Konsumtion der Dienstleistung oder Ware, durch die Privatperson, die sie bezahlt hat, oder das Unternehmen, das sie gekauft hat, dabei. Denn ich, höchstpersönlich, bewirke ja erst, indem ich tätig werde, diesen Gebrauch, der von meinen Kenntnissen, meinen Fertigkeiten und Fähigkeiten, von meinen Muskelfasern, Nerven und Gehirnzellen sowie von meinem Herzblut gemacht wird. Insofern vermarkte und verkaufe ich zugleich auch mich selbst oder, anders gesagt, ich verleihe mich, zu einem vereinbarten Zweck, auf Zeit. Ich bin untrennbar von meiner, nein: von der von mir veräußerten Dienstleistung, untrennbar von meiner, nein: von der von mir einer fremden Verfügung überlassenen Ware Arbeitskraft.

 

4.

Die menschliche Arbeitskraft sei jedoch gar keine Ware, das legte der Wirtschaftswissenschaftler Karl Polanyi 1944 dar; es werde in der modernen Marktgesellschaft aber dennoch so getan als ob. Er schrieb: „Die angebliche Ware ‚Arbeitskraft‘ kann nicht herumgeschoben, unterschiedslos eingesetzt oder auch nur ungenutzt gelassen werden, ohne damit den einzelnen, den Träger dieser spezifischen Ware, zu beeinträchtigen. Das System, das über die Arbeitskraft eines Menschen verfügt, würde gleichzeitig über die physische, psychologische und moralische Ganzheit ‚Mensch‘ verfügen“.

Die Sache scheint, auch sachlich, vertrackt zu sein. Ware oder nicht, die Arbeitskraft wird faktisch im weltweit dominierenden Wirtschaftssystem als Ware behandelt und gehandelt. Und welch zentralen Stellenwert der Kauf und Verkauf der Arbeitskraft in unserer Gesellschaft nach wie vor haben, das wissen nicht nur diejenigen, die als arbeitslos tituliert und zur Selbstvermarktung um jeden Preis angehalten werden – und das, obwohl die Perspektive der Vollbeschäftigung längst schon wegrationalisiert worden ist. Mal abgesehen davon, dass, richtig herum betrachtet, ein Großteil der für uns Menschen wichtigen und notwendigen Tätigkeiten kaum bis gar keine Anerkennung in Geld findet, vor allem solche der Fürsorge und Pflege, die immer noch vornehmlich Frauen vollbringen, oder Engagements in nachbarschaftlicher, in alltagspolitischer Hinsicht, sowie eben auch künstlerische Leistungen – dabei gewinnen die Bedürfnisse danach und die Freuden darüber immer mehr an Bedeutung.

 

5.

Mit den Widersprüchen der menschlichen Arbeitskraft als Ware hatte bereits Immanuel Kant zu kämpfen. Unter anderem waren es moralische Bedenken, die er verschiedentlich kundtat, und zwar schlichtweg deshalb, weil es Menschen gab, die ihr Arbeitsvermögen anderen verkaufen oder sich als „Gesinde“, sprich: Hausdienerschaft, an andere verdingen mussten. Eine merkwürdige Konsequenz, die er daraus zog, war es, diesen Menschen bloß einen Status als passive, nicht jedoch als aktive Staatsbürger zuzuerkennen, was bedeutete, ihnen grundlegende Bürgerrechte, etwa das Wahlrecht, vorzuenthalten. Als abhängig Beschäftigte, die kein staatstragendes und ihre ökonomische Unabhängigkeit gewährendes Privateigentum vorweisen konnten, galten sie Kant und seinen bürgerlichen Zeitgenossen nicht als souveräne Subjekte und deshalb nicht zur politischen Willensbildung und erst recht nicht zur Regelung staatlicher Angelegenheiten befähigt. Dieselbe Auffassung galt in Bezug auf Frauen, ob sie Lohnarbeit verrichteten, sich als Hausbedienstete verdingten, als Ehefrauen von begüterten Männern den Haushalt beaufsichtigten oder um Freiheiten kämpften. Indem das bürgerliche Rechtssubjekt als männlicher und weißer Privateigentümer gelebt und konzipiert wurde, blieben für Arbeitende, Frauen und Menschen, die zu Fremden erklärt und am liebsten kolonisiert wurden, nur Existenzberechtigungen als Untermenschen übrig, wenn überhaupt.

Um seine moralischen Bauchschmerzen angesichts der seinerzeit sich ausbreitenden Lohnarbeitsverhältnisse zu heilen und um der Marktwirtschaft, die damit einherging, Legitimität zu verleihen, fand Kant, als Kind seiner Zeit, noch eine zweite Lösung: Er schloss Erwägungen moralischer Natur aus seiner Rechtslehre per definitionem aus – diese verwies er in die getrennt konzipierte Disziplin der Ethik. Eine Weichenstellung für Doppelmoral, die bis heute reicht. Jene formalistische Ausrichtung von Kants Rechtslehre war denn auch wegweisend. So wurde der Arbeitsvertrag im bürgerlichen Recht zu einem Vertrag wie jeder andere Warentausch-Vertrag auch: Arbeitskraft gegen Lohn – und basta!

Das Recht, diesen speziellen Vertrag einzugehen, wurde den Arbeitenden natürlich auch als passiven Staatsbürgern zuerkannt. Dafür war es auch gar nicht von Belang, ob sie lesen oder schreiben konnten. Blieb ihnen doch sowieso nichts anderes übrig, als sich selbst, deklariert als Ware Arbeitskraft, zu verkaufen, als über sich selbst in diesem seltsamen Tausch, dem juristischen Sinn oder eher Unsinn nach, als ihr eigenes Eigentum zu verfügen. Was hätten sie auch sonst in die Waagschale des Marktes werfen sollen, von dem das Leben und Sterben der Menschen in der neuen Zeit nun wesentlich abhing. Im Arbeitsvertrag, dem Rechtsausdruck der Lohnarbeit, durften die Arbeitenden also teilhaben an der souveränen, rechtlich abgesicherten Subjektivität der freien Bürger, die auf Privateigentum gegründet war. Mit einem entscheidenden Haken allerdings: Denn eben diese Form der Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft war und ist gekoppelt daran, sich den hohen Herren, oder heute: den Konzernen, Tag um Tag zu verschreiben und zur Nutzung anheim zu geben, um so deren Reichtum beständig zu mehren.

 

6.

Ich fürchte, die Kalamitäten derjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, werden im Verlauf dieses Essays nicht weniger. Selbst Karl Marx, dessen Wirtschafts- und Gesellschaftsanalyse auf der zentralen Rolle der Lohnarbeit aufbaut, hatte mit den Mucken und Tücken der Arbeitskraft als Ware offenbar seine Schwierigkeiten. An jener Stelle im ersten Band seines Hauptwerks „Das Kapital“, wo er den Begriff der Arbeitskraft einführt, weiß er offenbar nicht, wo er die Person des Arbeiters, der seine Arbeitskraft verkauft, verorten soll. Er schreibt, dass [Zitat:] „die Arbeitskraft als Ware nur auf dem Markt erscheinen [kann], sofern und weil sie von ihrem eignen Besitzer, der Person, deren Arbeitskraft sie ist, als Ware feilgeboten oder verkauft wird. Damit ihr Besitzer sie als Ware verkaufe, muß er über sie verfügen können, also freier Eigentümer seines Arbeitsvermögens, seiner Person sein.“

Noch einmal pointiert gesagt, was bei Marx da changiert: Verkaufe ich als Person bloß meine Arbeitskraft? Oder verkaufe ich zugleich mich als Person? Im bürgerlichen Recht ist der Verkauf der eigenen Person natürlich nicht vorgesehen, das käme ja einer freiwilligen Versklavung gleich, und dieser Eindruck soll natürlich nicht aufkommen. Doch die Verwirrung um die Person auf dem Arbeitsmarkt hat System. Die begriffliche Unschärfe, dieser Fauxpas von Marx verweist auf eine tatsächliche Unschärferelation kapitalistischer Arbeitsverhältnisse, mit der nicht nur ich hier und heute zu kämpfen habe: Verkaufe ich mich oder nur einen Teil von mir? Was aber bitte schön wäre ein Teil von mir, bin ich doch weder eine Maschine noch ein lebloses Ding. Lässt sich ein Teil eines Menschen von diesem abgrenzen, zu einem Vertragsgegenstand objektivieren und dementsprechend fixiert und isoliert im Arbeitsprozess einsetzen? Kann die Arbeitskraft überhaupt eine derartig tauschbare Sache sein? Sind wir nicht doch immer als ganze Menschen und insofern natürlich auch als soziale Wesen involviert?

Selbst wenn die gegenwärtige Weltwirtschaft wie ein einziges Groß-Laboratorium für innere und äußere Spaltungsprozesse erscheint; selbst wenn immer mehr Menschen weltweit, auch heute noch, ihrer agrarischen Lebensgrundlagen beraubt und in den Selbstverkauf gezwungen werden; selbst wenn im globalen Arbeitshaus immer mehr Menschen gar nicht mehr gebraucht werden oder nur noch ganz gelegentlich und geringfügig; und selbst wenn die vom Marktregime überflüssig Gemachten auch noch dazu verdammt sind, in permanenter Selbsterniedrigung anzuklopfen und um Arbeit zu betteln – selbst wenn all das so ist, und dann erst recht, stellt sich die moralische Frage immer aufs Neue: Soll das so sein? Darf das so sein? Soll oder darf dieses in der leiblichen, der geistigen und der sozialen Existenz der Menschen eingebettete Vermögen, das wir gewohnt sind „Arbeitskraft“ zu nennen, das aber eher als ein Potenzial für jede gesellschaftlich relevante Tätigkeit zu begreifen wäre – darf eine solch elementare Bedingung menschlichen Daseins zur Ware verdinglicht und fremder, privater, auf Profit ausgerichteter Vereinnahmung überlassen werden? Ist das richtig, ist das gut, ist das ethisch überhaupt vertretbar? Entspricht diese Basiseinrichtung unserer Gesellschaft, die Arbeitskraft als Ware – auch wenn ihr Austausch auf der formal-vertraglichen Ebene als beiderseitiges, gleichberechtigtes Willensverhältnis erscheint – eigentlich der Menschenwürde?

 

7.

Seit einiger Zeit wird nun allerdings, und das mit Nachdruck, der ganze Mensch gefordert, wird der volle, rückhaltlose Einsatz gerade auch der Persönlichkeit verlangt, bloß in verkehrter Form – und zwar einerseits bei der Jobsuche, andererseits in den entfremdeten Arbeitsverhältnissen selbst. Wenn ich als Erwerbsloser von der Hartz-Gesetzgebung zum aufzuscheuchenden Freiwild erklärt werde; wenn ich mich als prekärer Selbständiger in allen Facetten meines Daseins selbst ständig auf meine Vermarktbarkeit hin beäuge, erforsche und dem gemäß an mir herumlaboriere; oder wenn ich als abhängig Beschäftigter plötzlich motiviert werde, mich wie ein Unternehmer zu verhalten – dann zeigt das moderne Arbeitssystem seine totalitäre Tendenz. Wie hieß es bei Karl Polanyi vor über 60 Jahren: „Das System, das über die Arbeitskraft eines Menschen verfügt, würde gleichzeitig über die physische, psychologische und moralische Ganzheit ‚Mensch‘ verfügen“. In einer kritischen Linie, die mit Rosa Luxemburg begann, lässt sich von der kapitalistischen Konsequenz einer „inneren Landnahme“ sprechen: Das Kapital tritt in die Arbeitenden ein – wie sein Kosten-Profit-Kalkül überhaupt vor nichts und niemandem Halt zu machen droht. Es formt uns nach seinem Bild – oder treffender: Wir formen uns selbst nach seinem Bild. Ich könnte hier statt „Kapital“ auch sagen: das Lebensmodell „Unternehmer“ oder auch die „Ich-AG“ als exemplarische Metapher für ein generelles Selbst-Verständnis und Selbst-Verhältnis. Oder ich könnte sagen: Was sich in uns allen immer weiter breit macht, ist das bürgerlich-patriarchale Individuum – mit seinem formal immerhin freien und gleichen Rechtsstatus, mit seinem auf abgrenzbarem Privateigentum basierenden Selbstbewusstsein, mit seinem instrumentellen Verhältnis zu sich, zu Anderen, zur Welt und mit seinem Leitbild des Eigennutz maximierenden „homo oeconomicus“. Der vermeintliche Eigentümer in unserem Inneren, der uns sagt, wir besitzen uns selbst, also können wir mit uns auch machen, was wir wollen, uns somit also auch immer aufs Neue verkaufen – dieser Eigentümer in uns selbst ist bereits der Kolonialherr des Kapitals. Und in Personalunion ist er ein Abkömmling des strukturell männlichen, strukturell weißen Herrenmenschen. Und wir hören auf ihn, glauben ihm und arbeiten ohne Ende – für die globale Ausbeutungsmaschine von Mensch und Natur. Wir arbeiten an uns, an einander, und suchen Abnehmer für unsere Zwangswilligkeit, zu arbeiten. Dass wir uns dabei alle noch selbst verwirklichen können – was ist das für ein Selbst?, so wäre jetzt zu fragen –, dass das alles irgendwie noch Spaß machen soll und man dabei noch „das eigene Ding“ machen muss – das ist nun allerdings eine beachtliche Erweiterung der historisch noch gar nicht so alten Botschaft, nach der Arbeit über alles gehe und ohne diese kein Lebensrecht bestehe. Heute herrscht durch alle entscheidenden Koalitionen und freien Pressekonzerne das Credo neoliberaler Think Tanks: die Anrufung eines jeden als Unternehmer seiner selbst und natürlich auch einer jeden als Unternehmerin des eigenen Lebens. Selbst ein Lyrik-Unternehmer ist erlaubt und vom Prinzip her auch eine Unternehmerin in Sachen Kapitalismuskritik, Hauptsache: Die ökonomische Handlungslogik wird von jedem und jeder im täglichen Leben und Überleben praktisch bestätigt.

 

8.

Obwohl die Widersprüche der modernen Wirtschaftsweise sich gerade mal wieder krisenhaft zuspitzen, wollen die Entscheidungsträger und -trägerinnen nicht heraustreten aus dem destruktiven Rahmenprogramm, das ihre Jobs nämlich einschließt und das vorgibt, dass sich jede Handlung auf diesem Planeten profitlich rechnen muss. Die systemischen Probleme werden stattdessen in gefährlicher Einseitigkeit personalisiert, etwa nach dem Muster: „raffgierige Spekulanten sind Schuld“, und damit verkannt. Das passt zur Entwicklung der letzten Jahrzehnte, in deren Verlauf gesellschaftliche Widersprüche in einem neuen Ausmaß in die Menschen hineinverlagert wurden. Die Einzelnen wurden und werden verantwortlich gemacht und machen sich selbst verantwortlich für Grundsatzprobleme, die sie individuell nicht verursacht haben und die sie individuell auch nicht lösen können. Erwerbslosigkeit ist genauso ein strukturelles Problem wie die zerstörerische Ausbeutung der Erde, mit der wir – als Menschheit betrachtet – dabei sind, die Lebensgrundlagen unserer Kinder und Kindeskinder zu vernichten. Deshalb müssen wir auch als Menschheit dahin gelangen, dem System aus Wirtschaftswachstum, Weltmarkt und Standortkonkurrenz, der kapitalistisch-patriarchalen Verwertungslogik eine Pauschal-Absage zu erteilen.

Was wir individuell aber können, und das ist gar nicht mal so wenig: Wir können die gesellschaftlichen Widersprüche fühlen, erfahren und erkennen – und zwar buchstäblich am eigenen Leib! Dadurch hat jede und jeder Einzelne die Chance, in den eigenen Lebenskonflikten und inneren Streitlagen, in den vielfältigen und aufreibenden Kämpfen des Alltags die Gesellschaft zu erkennen, in der sie oder er lebt. Denn die persönlichen Konflikte sind, nicht in jeder, aber in vielerlei Hinsicht, ein Spiegel der gesellschaftlichen. Als solche wären sie meines Erachtens auszutragen, um nicht allein Spiegelfechtereien mit dem eigenen Bilde zu bleiben. Denn es sind die Spielregeln dieser Gesellschaft, in die wir alle hineingewachsen sind, mit denen grundlegend etwas nicht stimmt.

 

9.

PS: Menschen kommen zusammen in nicht-kommerziellen Unternehmungen (Teilen, Schenken, Beitragen, gemeinsam Gestalten); finden sich, um Ideen zu bewegen und Versuche zu starten, so weit es geht ohne Geld, ohne Lohnarbeit und Selbstvermarktung, ohne Konkurrenz und Warentauschlogik und ohne geschlechtliche Festschreibungen zu wirtschaften und zu leben; entwickeln und erproben solidarische, nachhaltige und freudvoll-kritische Alltagspraxen, die von der Frage ausgehen: "Wie möchte ich, wie möchten wir gemeinsam mit allen anderen Wesen auf diesem Planeten leben?"

© Rainer Stolz 2010

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