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Daniel Falbs Lyrik-Debüt „die räumung dieser parks“

Monika Rincks Lyrik-Debüt "Verzückte Distanzen"

Jan Wagners zweiter Gedichtband "Guerickes Sperling"

drei Gedichtbände ( Marion Poschmann / Andreas Altmann / Crauss )

junge Lyrik aus Berlin in vier Debüts ( Ron Winkler / Steffen Popp / Nikola Richter / Tom Schulz )

"Poetische Sprachspiele" und "Deutsche Unsinnspoesie", herausgegeben von Klaus Peter Dencker

Andreas Thalmayrs "Lyrik nervt – Erste Hilfe für gestresste Leser"

Klaus Peter Denckers Visuelle Poesie

 

 

 

Balance des bösen Blicks

zu Daniel Falbs Lyrik-Debüt „die räumung dieser parks“

Jähe Wendungen, doppelte Böden, Abgründe – im Gelände dieser Gedichte ist Orientierungsgabe gefragt. Hat sich die Wahrnehmung aber mit der Montagetechnik vertraut gemacht und ist beim Wechseln der Blickwinkel und Bezugsrahmen geschmeidig geworden, wird allerhand sichtbar: Zumutungen der Medienmaschinerie, Praktiken der Forschung oder der inneren Sicherheit, Kindheits- und Jugenderinnerungen. Was befremdet, ist oft zugleich vertraut, denn so mancher Gesichtspunkt unseres Alltags wird in seinen finsteren oder grotesken Zügen beleuchtet: „das telefon / ist in dieses gehirn irgendwie als nervenende hineingesteckt“. Gespiegelt werden Schwierigkeiten, zwischen Wirklichkeit und Simulation zu unterscheiden. Entferntes zeigt sich in unvermuteten Zusammenhängen. Zwar gibt es Passagen, die dergestalt verschlüsselt sind, dass man dahinter Privatgemächer des Autors vermutet. Doch die meisten Konstellationen lassen aufhorchen, etwa wenn Mathias Rusts Landung in Moskau mit einem Zoobesuch überblendet wird.

Die Tonfälle sind distanziert. Die Gedichte wirken zuweilen wie Rapporte. Ein Feldforscher scheint da am Werk, der auch sich selbst als Objekt sieht. Anklänge von Betroffenheit werden allenfalls zitiert. Ein feiner, am ehesten sarkastisch zu nennender Humor, der sich manchmal nur in einem Füllwort ausdrückt, verleiht vielen Zeilen allerdings eine besondere Färbung. Indem sich Falb im Vokabular und in den Sprachgesten raffiniert an die Inhalte anlehnt, legt sich das Geflecht von Manipulation und Selbstmanipulation, das unser Leben bestimmt, wie von selbst bloß: „wenn in den gruppenszenen manche abwesend wirkten, / war das ein verbesserungsvorschlag, kein feierabend.“ Dass diese Lyrik weitgehend auf der Kippe bleibt, weder zynisch wird noch anklagt, stärkt ihre verstörende Wirkung.

Trotz des „harten, laborartigen Lichts“, so Gerhard Falkner im Nachwort, und trotz gelegentlicher Effekte gröberen Zuschnitts wie Vulgarismen oder Kalauer – in den Schlusszeilen vieler Gedichte findet eine Hinwendung zu den Subjekten statt, die anrührt. Plötzlich wird klar, wie hilflos und ausgeliefert sie sind, auch wenn sie scheinbar fröhlich mittun: „du lächelst / in die kamera und gehst schwimmen, die strömung erfasst dich sofort.“ Niemand ist sich hier seiner gewiss, seines Ortes nicht und auch nicht seines Körpers. Den einen droht mediale Bearbeitung, den anderen Abschiebung. Daniel Falb kultiviert einen Blick, der ebenso böse ist wie der Zeitgeist, dessen Wirken er betrachtet.

Rainer Stolz

erschienen im tip Berlin Nr. 08/2004

Daniel Falb, die räumung dieser parks, mit einem Nachwort von Gerhard Falkner und Zeichnungen von Andreas Töpfer, kookbooks 2003, 72 Seiten, 13,80 Euro

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Wundersame Diskurse

zu Monika Rincks Lyrik-Debüt "Verzückte Distanzen"

Monika Rincks Lyrik, auf Berlins Bühnen schon lange zu hören, hat dank einer fein komponierten Auswahl im zu Klampen Verlag endlich den Buchmarkt erreicht. Von der Gestalt eines Lauts, vom Kreisen der Radsportler im Velodrom oder von einer ins Peinliche gleitenden Intellektuellen-Party erzählt sie in einer berückenden Mischung aus Pathos und Ironie, zudem in Rhythmen, denen Zauberkraft innewohnt. Mit dem narrativen Impuls einher geht ein Forschungsdrang, eine Lust an der Bewegung der Erkenntnis. Auf Zickzackkurs zwischen Imagination und Reflexion erweitert Rinck ihre Bildräume ins Metaphorische und bringt elementare Lebensfragen zum Schwingen. Momente der Trennung und der Intimität, Prozesse in Gruppen, Zustände der Schwere, der Schwebe oder der Sehnsucht sowie Erfahrungen der Natur als fremd-vertrautem Pendant offenbaren dabei auf originelle Weise ihr inneres Gefüge.

Essayistisch ist diese Lyrik, wenn aus einem magischen Tausch die Sprache wie neu, weil liebesbegabt, hervortritt: „wir opfern zuerst deine keuschheit, liebster / und erhalten als gabe die sprache dafür / erschöpft und gelöst liegen die körper / im schatten der rede“. Diskurse der eigenen Art finden statt, wenn aus Ziegen Schafe werden, die „an der bahn der differenz / entlang“ ziehen, und wenn aus den Schafen dann noch Zahlen werden: „mein bruder, / man staune, entdeckte schlicht, den natürlichen nistplatz der zahlen“.

Mag man auch nicht jeder Verstiegenheit folgen, das nimmt man gern in Kauf. Denn Rincks Gedichte leben von der Extravaganz, von einer meist wundervollen Verschrobenheit nicht nur im Ton und in der Bildsprache, sondern auch in der Bereicherung des lyrischen Vokabulars: „bitte nicht sagen, / »die nacht.« / sag doch lieber: »holding,« / und ich polymerisierte / meine seele in deine hinein“.

Rainer Stolz

erschienen im tip Berlin Nr. 26/2004

Monika Rinck, Verzückte Distanzen, zu Klampen Verlag 2004, 48 Seiten, 17,00 Euro

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Morsche Idyllen

zu Jan Wagners zweitem Gedichtband "Guerickes Sperling"

In „Guerickes Sperling“ führt uns Jan Wagner, wie schon in seinem ersten Gedichtband, an viele Orte der Welt, in die Geschichte und durch die Jahreszeiten. Das geschieht bildreich – „blaue abende, in die wir stiegen / wie in keller voller alter weine. / der mond, das helle artischockenherz / der jahresmitte“ – und formsicher in traditionellen sowie freien Versen. Ein spielerischer Drang ist ebenfalls am Werk und kommt in einem Sonettenkranz auch keinesfalls zu kurz. Erfrischend: die augenzwinkernde Form des unreinen Reims.

Einige Gedichte genügen sich darin, eine Abfolge reizvoller Metaphern und Klänge zu liefern, was höchstens dann stört, wenn der Band das dritte Mond- oder Möwenbild erreicht. Oft jedoch wird die Oberfläche durchbrochen und der Blick auf Düsteres und Fragwürdiges gelenkt, werden Idyllen als morsch spürbar. Manch motivischer Unterstrom kündet von Unheil oder Tod, wie in „Weihnachten in Huntsville, Texas“, wo Todesstrafen vollstreckt werden: „als der strom an diesem abend / zusammensackte, flackerten die lampen / am weihnachtsbaum, erloschen“.

Verblüffend endet ein Besuch des „Smithfield Market“ damit, dass „so etwas wie glück“ in den Zügen eines abgetrennten Schweinskopfs aufscheint. In dem Gedicht „Saint-Just“ überrascht dagegen bloß ein famoses Wortspiel. Zu naheliegend sind auch die Gefahrenmotive im Porträt einer Seiltänzerfamilie. Doch wenn Kolumbus als Schüler auftaucht, der sich eine Kopfnuss einfängt, oder ein toter Sperling, Versuchstier des Physikers Guericke, „durch einen leeren Himmel“ fliegt, dann lotet Wagner originell und hintersinnig die Höhen und Tiefen des Daseins aus – und unsere Sinne laben sich nicht nur an satten Bildern, sondern beginnen selbst zu schwanken und zu flattern.

Rainer Stolz

erschienen im tip Berlin Nr. 16/2004

Jan Wagner, Guerickes Sperling, Berlin Verlag 2004, 83 Seiten, 16,00 Euro

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Hügelrücken und Fußabdrücke

zu drei Gedichtbänden ( Marion Poschmann / Andreas Altmann / Crauss )

„es war / die Bewegung einer Landschaft / die jede Vertrautheit löschte / es war ein Hügelrücken und / der Augenblick des Abwendens / des Zuwendens“ – In der Lyrik von Marion Poschmann, die 2002 mit einem Roman antrat („Baden bei Gewitter“) und nun schon ihren zweiten Gedichtband vorlegt, verschränken sich die Areale der inneren und äußeren Welt. Natur und Subjekt betten sich wechselseitig ein, zeigen und verdecken sich – „in Wäldern gewandert (...) im mächtigen Schatten der Mutter: Tannen und Untertannen“. Ob Poschmann Kindheitsorte aufsucht oder alte Fotografien neu belichtet, ob sie Körper als „Depots der Geschichte“ sichtbar werden lässt oder ein „abgehalftertes Land“ betrachtet: stets sind es Akte der Sprachkunst auf hohem Niveau. Dabei wirken sie kaum darauf getrimmt, da in den Kräfteverhältnissen dieser Gedichte verschiedene Gegengewichte mitwirken: ein Augenzwinkern, ein Wortwitz, ein Stolperstein wie „Blumenstau“, eine Wendung ins Magische oder Absurde („in dieser Nacht erschlug ich mehrere knallblaue Wichtel“). Wer sich dem Rhythmus dieser Gedichte, rastlos, aber ohne Hast, überlässt, entdeckt mancherlei „Wertgegenstände / für Leute die selten zuhause sind“.

Andreas Altmann bescheidet sich eher mit einfachen Worten wie Baum, Schatten, Stimmen, Wege, Schnee, die neben und mit dem lyrischen Ich agieren: „nachts / hängt sich der teich an das fenster, / schwimmt blätter vom baum. / ich seh ihm ins wasser, er / taucht mich ein.“ Seine Sprache ist schlicht und komplex zugleich. Bilder entfalten sich in aller Kürze („fenster sortieren den wind“). Gut justierte Mehrdeutigkeit („wir verschreiben uns die kindheit“), raffinierte Zeilenbrüche, Verkehrungen und Verschiebungen des gängigen Wortgebrauchs geben den Gedichten ihren Schliff, ihren unverkennbaren Duktus. Eine Auswahl aus den bisherigen drei Bänden Altmanns, die gerade in der Lyrik-Reihe des Rimbaud Verlags erschienen ist, zeigt das deutlich. Bei dieser Lektüre wird man ruhig, sammelt sich und geht den Pfaden der Worte und ihrer Bedeutungen bereitwillig nach. Auch wenn die Gegenden oft traurig wirken – verfallene Häuser, Abschiedsszenerien – hält man gern inne und setzt auch mal einen Schritt zurück, bevor man weiterschreitet, mit geweiteten Augen: „blind / stechen blitze ins tageslicht. wir suchen / den passenden stand in den schritten. wo die luft / klar in den worten steht.“

Die Gedichte von Crauss dagegen ziehen einen mit, ihr liedhafter Rhythmus, ihr Sprachfluss. Doch wo man landet, ist es anfangs recht unheimlich, bei Schwarzen Witwen etwa. Bis das Hauptthema des Buches sich durchsetzt: Momentaufnahmen von Freund- und Liebschaften, die meist vorbei sind – „mein liebster platz war später / der abdruck deines nassen nackten fusses / kurz hinter der wohnungstür“. Fast „alles reimt sich / auf sehnsucht“ in den Stimmungsbildern dieser Sammlung, auch Sex: „ein traum: wenn man sie rumkriegt, / knacken die ärsche. alles frisch, / alles frisch, ruft ein melonenverkäufer kurz / vor feierabend“. Im Vergleich zum ersten Band „Crausstrophobie“, der ebenfalls in der Lyrikedition 2000 herauskam, scheint Crauss seine Experimente hier weitgehend zurückzustellen. Zwar spielt er manchmal noch mit eigenen und auch mit fremden Motiven, virtuos wie gewohnt, aber vorwiegend erzählt er sehr direkt und nahezu ungebrochen: „die liebe ist ein scheiss hör ich mich fluchen / der morgen muss irgendwann dämmern. / der horizont verschwimmt mir in tränen / es regnet verzweifelt.“ Man kann das als Rückschritt verbuchen oder es mutig nennen. Aber vielleicht sind die Grenzbereiche zum Banalen, zur Privatnotiz, zum Kitsch auch sein jetziges Experimentierfeld. Überschreitungen kommen schließlich nur vereinzelt vor, wie bei „enno spielt wieder gitarre“ – und darüber lässt sich dann immer noch streiten.

Rainer Stolz

erschienen im tip Berlin Nr. 21/2004

Marion Poschmann, Grund zu Schafen, Frankfurter Verlagsanstalt 2004, 96 Seiten, 15,90 Euro

Andreas Altmann, Augen der Worte, Rimbaud 2004, 104 Seiten, 13,00 Euro

Crauss., Alles über Ruth, Lyrikedition 2000, 2004, 92 Seiten, 9,50 Euro

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Von Bodden und Bergen

zu junger Lyrik aus Berlin in vier Debüts ( Ron Winkler / Steffen Popp / Nikola Richter / Tom Schulz )

Legt man die Anthologie „Lyrik von jetzt“ (DuMont, 2003) zugrunde, wird die deutschsprachige Nachwuchslyrik zu einem Drittel von (Wahl-)Berlinern geschrieben.

Ron Winkler ist einer von ihnen. Sein erster Gedichtband „vereinzelt Passanten“ erschien jüngst in dem neuen, sehr ambitionierten Kleinverlag kookbooks. „das Gedicht ist ein Sieb, / in die Fremde gehalten, die Brandgänse / über dir lassen sich damit nicht löschen.“ Winkler erkundet Naturerscheinungen und die Sprache, wie sie jene zu greifen sucht. Im Dialog mit einem Du oder mit eigenen Vorstellungen spürt er den Noten der Monate nach und durchstreift die Küstenlandschaft der Ostsee. Sein Bestreben, Welt und Wahrnehmung gleichermaßen einzubinden, zeigt sich selten als Mühe, vielmehr als „seltsames Seestaunen“ oder „Ideenspiel“ – worin das Glück poetischer Erfahrungsprozesse nur darauf wartet, überzuspringen.

„Hochspringen, nachts, wer reißt die Sterne / findet ein Wort, für das Gewehr des Idioten“. In „Wie Alpen“ lässt Steffen Popp auf Metaphern von klarer Schönheit wahnwitzige Bildkaskaden folgen, treibt seine Gedichte in pathetische Gesten und übersteigert sie ironisch, wechselt flink die Bild- und Sprachebenen. Es sind die großen Gegensätze wie oben und unten, Licht und Dunkel, Weite und Grenze, zwischen denen das lyrische Ich hin und herschwankt – in der mittleren Distanz einer Dachfenster-Perspektive, eines Reisenden oder eines Verkünders. Diesem Blick aus der Schwebe verschwimmen die Dinge gelegentlich, doch findet Popp auch dafür noch ein berückendes Bild: „alles ist außer mir, ein Stausee / in dem geflutete Dörfer nachts leuchten“.

In Nikola Richters Debüt „roaming“ bestrickt der Ton: nonchalant, witzig, frech, auch mal albern. „los, leg noch ein bisschen jazz auf und dimm dann / das licht, damit meine blonden strähnen besser wirken / und das weiße glänzen im himmel.“ Als seien sie aus Gesprächen, etwa in WG-Küchen, herausgeschnitten, prägt die meisten ihrer Gedichte eine Haltung des Erzählens, ein Parlando aus schrägen Anekdoten, Beobachtungen oder Phantasien. Selbstironisch und wie nebenbei künden sie von den ambivalenten Lebensgefühlen junger Europäer, die studieren oder irgendwie in Kultur machen, die „immer erreichbar“ sind, aber selten ganz da. Wie diese in ihrem Reden laufen auch die Gedichte mitunter leer. Janusköpfig erscheint ebenso Richters Hang zur Zyklenbildung, der die Sujets eher überstrapaziert, aber mit den „Gimmicks“ – dem „weltraumkugelschreiber“ oder dem „bierfilter“ – eine Highlight-Reihe hingelegt hat.

„Wenn zwei sich küssen ist das / der nächste Weltkrieg“. Von der Berliner Szenekneipe bis zum Darßer Bodden – überall entdeckt Tom Schulz Anzeichen eines entwerteten Lebens, in dem viel Bier getrunken wird und man allenfalls halbwegs lässig dahinvegetiert. Schulz macht sich Luft oder lustig, besingt die schöne Tristesse, prangert Hässlichkeiten an. Ab und zu überrascht er mit einem freundlichen Ton, doch lieber lässt er die Sau raus: „Der Pißbruder Staat / Stütze über gefrorene Pfützen“. Er reiht Eindrücke, Einfälle, Erinnerungen und Statements aneinander, scheut weder Kalauer noch Kitsch, baut Zitate aus der Alltagswelt, zum Teil amüsant verfremdet, aber auch Referenzen zur Literatur ein. „Abends im Lidl“ versammelt schroffe, oft disparat wirkende Textgewebe für derb-melancholische Gemüter.

Wenn diese vier Stimmen die jüngere Lyrikszene in Berlin repräsentieren, dann hinsichtlich ihrer Vielfalt und Lebendigkeit.

Rainer Stolz

erschienen im tip Berlin Nr. 18/2004

Ron Winkler, vereinzelt Passanten, kookbooks 2004, 72 Seiten, 13,80 Euro

Steffen Popp, Wie Alpen, kookbooks 2004, 72 Seiten, 13,80 Euro

Nikola Richter, roaming, Lyrikedition 2000, 2004, 96 Seiten, 9,50 Euro

Tom Schulz, Abends im Lidl, KRASH Neue Edition 2004, 80 Seiten, 8,50 Euro

Lyrik von jetzt, 74 Stimmen, hrsg. von Björn Kuhligk & Jan Wagner, DuMont 2003, 432 Seiten, 14,90 Euro

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Sprachartistik

zu den Anthologien "Poetische Sprachspiele" und "Deutsche Unsinnspoesie", herausgegeben von Klaus Peter Dencker

Im vielfältigen Umgang mit dem Spiel zeigt sich dessen Sprache. Im sprachlichen Umgang mit der Vielfalt zeigt sich deren Spiel. Im spielerischen Umgang mit der Sprache zeigt sich deren Vielfalt. Permutation (Vertauschung von Wörtern) ist eines von vielen poetischen Sprachspielen, die den Gedichten der kürzlich erschienenen Sammlung ihr Gesicht verleihen. Klaus Peter Dencker ergänzt hiermit die vor 25 Jahren ebenfalls von ihm herausgegebene „Deutsche Unsinnspoesie“. In beiden Booten schlingern Genius und Narretei vereint vom Mittelalter bzw. von der frühen Neuzeit bis in die jeweilige Gegenwart, wobei die Hälfte der Reise dem 20. Jahrhundert gilt. In der „Unsinnspoesie“ findet sich mehr Volkstümliches, in den „Sprachspielen“ mehr visuelle Poesie. Bei den frühen Texten in altdeutscher Sprache bzw. Schrift braucht man hier allerdings Geduld und angesichts mancher Originalabdrucke eine Lupe. Dafür gibt es in Reclam-Manier viel Text für wenig Geld. Vielleicht hätte eine kleinere, strengere Auswahl die Lesefreude noch erhöht, aber die Stärke dieser Sammlungen besteht in der Bandbreite, sowohl der Formen als auch der Autoren: von Minnesängern über moderne Klassiker wie Morgenstern bis zu Sprachspielprofis wie Ernst Jandl, Oskar Pastior oder die Anagramm-Künstlerin Unica Zürn. Auch Dichter, die als ernst gelten, etwa Goethe oder Celan, lernt man anders kennen.

Diese Bücher können ebenso als Nachschlagewerke wie als Einstiegsdrogen in das Œuvre einzelner Autoren dienen. Sie sind von hinten wie von vorne zu lesen und am besten laut.

Rainer Stolz

erschienen im tip Berlin Nr. 12/2003

Klaus Peter Dencker (Hrsg.):

„Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“, Reclam 2002, 428 Seiten, 9,80 Euro

„Deutsche Unsinnspoesie“, Reclam, 1. Auflage: 1978, 445 Seiten, 9,10 Euro

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Lyrik nervt

zu Andreas Thalmayrs "Lyrik nervt – Erste Hilfe für gestresste Leser"

Entdeckt die Schülerin Vera in einem Laden das Buch „Lyrik nervt“, Untertitel: „Erste Hilfe für gestresste Leser“. Mit dem roten Kreuz drauf sieht es wie ein Verbandskasten aus. Sie schlägt es auf: „Was will uns der Dichter sagen? Mit dieser blöden Frage fängt es an. Sie treibt Lehrer und Schüler direkt dem häßlichen Laster der Interpretation in die Arme.“ Cool, denkt Vera und blättert zum Anfang: „Überhaupt tun die allermeisten so, als wären Gedichte etwas ganz Besonderes, etwas für Eingeweihte, etwas, von dem die allermeisten gar nichts kapieren können. Und viele von uns fallen darauf herein“. Weiter steht da, dass jeder in seinem Leben sowieso und ganz selbstverständlich mit Lyrik Umgang pflege – in Kinderreimen, Rap-Songs oder Werbesprüchen – und deshalb mit ihr auch etwas anfangen könne. Klingt nicht schlecht, denkt Vera, spart das Geld aber dennoch fürs Kino. Zum Glück, denn ihre Mutter hat das Buch schon gekauft.

Dieser Andreas Thalmayr tänzelt da ziemlich elegant und schwungvoll durch die Werkstatt der Poesie, sagt die Mutter, lässt alles Wesentliche kurz aufleben: Betonung, Reim, freier Vers, Metapher, Strophen- und Spielformen, mit vielen Gedichtbeispielen. Der kann erklären, ohne zu verklären, darlegen, ohne zu erschlagen. Da kommt Begeisterung auf, für schlichte und sogar für schwierige Gedichte. Am Ende macht er noch Mut und gibt Anregungen, selbst ein paar Verse zu probieren.

Später Vera: Aber ein wenig lehrerhaft ist der auch. Und dass er unter den positiven Beispielen Gedichte von sich zitiert und dabei so tut, als seien die von jemand anderem ... dabei ist er doch selbst dieser Hans Magnus Enzensberger, stand im Internet. Aber trotzdem: das Buch ist klasse!

Rainer Stolz

erschienen im tip Berlin Nr. 13/2004

Andreas Thalmayr, Lyrik nervt – Erste Hilfe für gestresste Leser, Hanser 2004, 120 Seiten, 12,90 Euro

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Drang zur Langsamkeit

zur visuellen Poesie von Klaus Peter Dencker

erschienen im tip Berlin Nr. 20/2006

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